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Behindertenpassarithmetik – Kündigungsschutz ja/nein/vielleicht
#1
Behindertenpassarithmetik – Kündigungsschutz ja/nein/vielleicht

OGH vom 17.03.2023, 9 ObA 130/22s

§ 8 Behinderteneinstellungsgesetz

§ 14 Behinderteneinstellungsgesetz

Sachverhalt:
  • Ein Arbeitnehmer trat am 7.1.2020 bei seinem Arbeitgeber ins Dienstverhältnis ein.
  • Schon am 9.4.2018 wurde auf seinen Antrag hin ein Behindertenpass ausgestellt.
  • Am 25.2.2020 (also knapp 8 Wochen nach seinem Eintritt ins Dienstverhältnis) wurde ihm die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigt Behinderten vom Sozialministeriumsservice genehmigt (er hatte dies am 24.2.2020 beantragt).
  • Per Ende Februar 2022 (also nach etwas mehr als zweijähriger Beschäftigung) sprach der Arbeitgeber die Kündigung aus, ohne vorher die Zustimmung vom Behindertenausschuss einzuholen.
  • Strittig war nun, ob das Dienstverhältnis (nach wie vor) aufrecht war, da die Dienstgeberkündigung wegen der nicht vor deren Ausspruch eingeholten Zustimmung des Behindertenausschuss ungültig war oder ob sie gültig war, weil durch die Ausstellung des Behindertenpasses (lange Zeit vor dem Eintritt) für die Dauer von insgesamt 4 Jahren ab dem Eintritt kein besonderer Kündigungsschutz entstehen konnte.

So entschied der OGH:
• Durch die Ausstellung eines Behindertenpasses wird die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten nach § 14 Abs 1 BEinstG begründet.
• Allerdings erlischt die Rechtswirkung des betreffenden Bescheids im Bereich des BEinstG nach § 14 Abs 1 BEinstG letzter Satz mit Ablauf des dritten Monates, der dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung folgt, sofern nicht der begünstigte Behinderte innerhalb dieser Frist gegenüber dem Sozialministeriumservice erklärt, weiterhin dem Personenkreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Personen angehören zu wollen.
• Es hängt daher von der Disposition des Behinderten ab, ob er eine dauerhafte Zugehörigkeit zum begünstigten Personenkreis wünscht.
• Im vorliegenden Fall wurde der Behindertenpass dem Arbeitnehmer am 9. 4. 2018 ausgestellt, seine Rechtskraft trat mit Ablauf der Beschwerdefrist (eine Beschwerde hätte sich insbesondere gegen die Höhe des Grades der Behinderung richten können) gemäß § 46 BBG von 6 Wochen ein.
• Ob innerhalb der daran (also an das Ende der Beschwerdefrist) anschließenden dreimonatigen Frist vom Arbeitnehmer gemäß § 14 Abs. 1 BEinstG letzter Satz eine Erklärung abgegeben wurde, weiterhin dem Personenkreis der begünstigten Behinderten angehören zu wollen, konnte nicht festgestellt werden, weshalb davon auszugehen war, dass zum Zeitpunkt des Eintrittes keine Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigt Behinderten mehr bestanden hatte.
• Der Antrag auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der nach dem BEinstG begünstigten Behinderten wurde vielmehr erst am 24. 2. 2020 gestellt. Die Begünstigungen werden mit dem Zutreffen der Voraussetzungen, frühestens mit dem Tag des Einlangens des Antrages wirksam, damit im vorliegenden Fall erst nach der Begründung des Dienstverhältnisses.
• Die Ausnahmebestimmung des § 8 Abs 6 lit b BEinstG (= kein besonderer Kündigungsschutz während der ersten vier Beschäftigungsjahre) kommt nicht zur Anwendung. Vielmehr war nach Ablauf der ersten sechs Monate des Dienstverhältnisses der Kläger nur unter den Voraussetzungen des § 8 Abs 2 bis 4 BEinstG und damit nur mit Zustimmung des Behindertenausschusses kündbar.
• Der Kündigungsschutz ist von der Kenntnis des Arbeitgebers von der Behinderung unabhängig.
• Entscheidend ist allein, ob die Begünstigungen im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bereits eingetreten waren.
• Es kommt daher auch nicht darauf an, dass der Arbeitgeber bei Einstellung des Arbeitnehmers von einer begünstigten Behinderung ausging.

Auf den WIKU-Punkt gebracht:
Wurde lange Zeit vor dem Eintritt ein Behindertenpass ausgestellt und danach binnen der gesetzlichen Frist (drei Monate nach Eintritt der Rechtskraft) keine Verlängerungserklärung eingebracht, sodass noch vor dem Eintritt der Status der begünstigten Behinderung nicht mehr bestanden hatte, so bewirkte ein nach dem Eintritt vom Arbeitnehmer eingebrachter Antrag auf Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigt Behinderten, dass der besondere Kündigungsschutz schon während der ersten vier Beschäftigungsjahre bestanden hatte.
Der Dienstgeberkündigung hätte die Zustimmung durch den Behindertenausschuss vorangehen müssen und dies unabhängig davon, ob der Arbeitgeber vom Vorliegen der Behinderung wusste und unabhängig davon, dass er „dachte“, dass zum Zeitpunkt des Eintrittes ins Dienstverhältnis bereit der Status der begünstigten Behinderung bestanden hatte.
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