28.10.2019, 08:47
Der Fall Andritz beim EuGH und die möglichen Auswirkungen auf die Personalverrechnung
Dass die vorliegende EuGH-Entscheidung Auswirkungen auf die „Lohndumping-Strafen“ haben wird, darf, nachdem das System ja ident ist, wohl angenommen werden und gilt als so gut wie sicher.
EuGH C-64/18, C-140/18, C-146/18 und C-148/18 vom 12. September 2019
§ 7d AVRAG
§ 28 AuslBG
Art. 56 AEUV
So entschied der EuGH:
A) AVRAG und LSD-BG-Regelungen sowie Regelungen des AuslBG sind Regelungen, die den freien Dienstleistungsverkehr einschränken, was nicht von Haus aus unzulässig sein muss:
· Der soziale Schutz der Arbeitnehmer/innen sowie die Bekämpfung von Betrug, insbesondere Sozialbetrug, und die Verhinderung von Missbräuchen sind Ziele, die zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehören, mit denen eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gerechtfertigt werden kann (Urteil vom 13. November 2018, Čepelnik, C‑33/17, EU:C:2018:896, Rn. 44).
· In diesem Zusammenhang können gesetzliche Regelungen, welche Sanktionen für Verstöße gegen arbeitsrechtliche Verpflichtungen vorsehen, mit denen die genannten Ziele erreicht werden sollen, als zur Sicherstellung der Einhaltung solcher Verpflichtungen und damit zur Erreichung der verfolgten Ziele geeignet angesehen werden.
B) Das kleine EU-Strafen-1x1:
· Insoweit ist hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen darauf hinzuweisen, dass die Härte der verhängten Sanktion der Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes entsprechen muss.
· Außerdem dürfen die nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Mai 2018, Zheng, C‑190/17, EU:C:2018:357, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
C) Die AVRAG-Regelungen führen im vorliegenden Fall zu „unverhältnismäßigen Strafen“:
· Mit der hier zu prüfenden Regelung soll die Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften über die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen (nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz) sowie die Bereithaltung von Lohnunterlagen (nach dem AVRAG) geahndet werden.
· Grundsätzlich erscheint eine Regelung, die Sanktionen vorsieht, deren Höhe von der Zahl der von der Nichteinhaltung bestimmter arbeitsrechtlicher Verpflichtungen betroffenen Arbeitnehmer abhängt, für sich genommen nicht unverhältnismäßig (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Chmielewski, C‑255/14, EU:C:2015:475, Rn. 26).
· Der hohe Betrag der zur Ahndung der Nichteinhaltung solcher Verpflichtungen vorgesehenen Geldstrafen kann allerdings in Verbindung damit, dass es für sie keine Obergrenze gibt, wenn der Verstoß mehrere Arbeitskräfte betrifft, zur Verhängung beträchtlicher Geldstrafen führen, die sich, wie im vorliegenden Fall, auf mehrere Millionen Euro belaufen können (hier: über 2 Millionen Euro).
· Zudem kann der Umstand, dass die Geldstrafen einen im Vorhinein festgelegten Mindestbetrag jedenfalls nicht unterschreiten dürfen, dazu führen, dass solche Sanktionen in Fällen verhängt werden, in denen nicht erwiesen ist, dass der beanstandete Sachverhalt von besonderer Schwere ist.
· Hinzu kommt, dass nach der österreichischen Regelung im Fall der Abweisung der Beschwerde gegen den Bescheid, mit dem eine solche Sanktion verhängt wird, der Beschwerdeführer einen Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der Sanktion leisten muss.
· Weiters sehen die Regelungen für den Fall der Uneinbringlichkeit der verhängten Geldstrafe die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe vor, die angesichts der daraus resultierenden Folgen für den Betroffenen besonders schwerwiegend ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 1980, Pieck, 157/79, EU:C:1980:179, Rn. 19, hier ging es um 3 bis 4 Jahre Ersatzfreiheitsstrafe).
· In Anbetracht dessen steht eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche nicht in angemessenem Verhältnis zur Schwere der geahndeten Verstöße, die in der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und die Bereithaltung von Lohnunterlagen bestehen.
· Im Übrigen könnte die wirksame Durchsetzung der Verpflichtungen, deren Nichteinhaltung durch diese Regelung geahndet wird, auch mit weniger einschränkenden Maßnahmen wie der Auferlegung von Geldstrafen in geringerer Höhe oder einer Höchstgrenze für solche Strafen gewährleistet werden, und ohne sie zwangsläufig mit Ersatzfreiheitsstrafen zu verknüpfen.
· Somit ist davon auszugehen, dass eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Gewährleistung der Einhaltung der arbeitsrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und die Bereithaltung von Lohnunterlagen sowie zur Sicherstellung der Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist (Art. 56 AEUV; AEUV = Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union; Art. 56 regelt die Dienstleistungsfreiheit).
Auf den WIKU-Punkt gebracht:
Die Regelungen des § 28 Ausländerbeschäftigungsgesetzes (Strafen für Nichteinholung von Beschäftigungsbewilligungen je betroffenem bzw. betroffener Ausländer/in sowie des § 7d AVRAG (Strafen je betroffene Person für das Nichtaufliegen von Lohnunterlagen am Arbeitsort), wonach jeweils Mindesttrafen in sehr hoher Höhe sowie sehr hohe Gesamtstrafen ohne Begrenzung nach oben verhängt werden können und diese dann auch jeweils in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden können, gehen über die Grenzen dessen hinaus, was nach dem Europarecht (Art. 56 AEUV) erforderlich ist.
Um es noch einmal zu verdeutlichen: im vorliegenden Fall ging es um Geldstrafen von mehr als € 3 Millionen Euro, die in Ersatzfreiheitstrafen von über 4 Jahren umgewandelt werden konnten. Die Vergehen waren: für 217 Arbeitnehmer/innen waren vor Ort keine Lohnunterlagen vorhanden und keine Beschäftigungsbewilligungen (wobei es hier großteils um kroatische Arbeitnehmer/innen ging).
Der VfGH hatte noch vor kurzem die österreichischen Regelungen in dieser Angelegenheit verteidigt und sah sich nicht veranlasst, den EuGH „anzurufen“ (WPA 6/2019, Artikel Nr. 107/2019). Auch der VwGH war mit den Regelungen in der Vergangenheit wohl „nicht unzufrieden“.
Der Hartnäckigkeit des Landesverwaltungsgerichts Steiermark schließlich ist es zu verdanken, dass nun diese Krusten aufgebrochen wurden.