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Kappungsklausel in Gleitzeitvereinbarung sittenwidrig
#1
Kappungsklausel in Gleitzeitvereinbarung sittenwidrig
 
OGH 9 ObA 75/19y vom 30. Oktober 2019
§ 4b AZG
 
 
Sachverhalt:
 
Strittig war folgende Formulierung in einer Gleitzeitbetriebsvereinbarung:
 
„Der Gleitzeitsaldo darf am Ende der Gleitzeitperiode maximal +/- 24 Stunden betragen. Das Ausmaß des Gleitzeitsaldos ist für den einzelnen Betrieb festzulegen, wobei das mögliche Ausmaß von Zeitguthaben und Zeitschulden jeweils gleich hoch sein soll.
Der Gleitzeitsaldo wird bis zum festgelegten Höchstausmaß in die nächste Gleitzeitperiode im Verhältnis 1:1 übertragen. Der Mitarbeiter ist verpflichtet, während der Gleitzeitperiode dafür Sorge zu tragen, dass er dieses Höchstausmaß an Übertragungsmöglichkeiten weder in Bezug auf Zeitguthaben noch in Bezug auf Zeitschulden überschreitet. Für den Fall, dass der Mitarbeiter dieser Verpflichtung nicht nachkommt, verfallen die über das festgelegte Höchstausmaß hinausgehenden Zeitguthaben am Ende der nächsten Gleitzeitperiode, sofern deren rechtzeitiger Verbrauch möglich und dem Mitarbeiter zumutbar gewesen wäre. Zeitschulden über das festgelegte Höchstausmaß, deren Ausgleich möglich und dem Mitarbeiter zumutbar gewesen wäre, werden am Ende der nächsten Gleitzeitperiode vom Entgelt des Mitarbeiters abgezogen.“
 
Es ging also im Ergebnis um die Frage, ob es tatsächlich möglich wäre, jenen Teil der Stunden, der über den „Übertragungsdeckel“ von 24 Stunden hinausging, verfallen konnte.
 
 
So entschied der OGH:
1. Wie definiert das Höchstgericht die „Gleitzeit“?
 
§ 4b Abs 1 AZG normiert für gleitende Arbeitszeit das Selbsteinteilungsprinzip.
 
Es ist durch das grundsätzliche Recht des Arbeitnehmers gekennzeichnet, im vereinbarten Rahmen die Einteilung der Normalarbeitszeit unter Beachtung auch der jeweiligen Gleitzeitperiode samt Übertragbarkeitsstunden selbst vornehmen zu können, ohne Kommen und Gehen und damit das jeweilige Normalarbeitszeitausmaß im Anlassfall vereinbaren zu müssen oder auf Genehmigungen im Anlassfall angewiesen zu sein.
 
Dafür ist grundsätzlich der Abschluss einer Betriebsvereinbarung (Gleitzeitvereinbarung) erforderlich, die gemäß § 4b Abs 3 AZG zu enthalten hat:
1. die Dauer der Gleitzeitperiode,
2. den Gleitzeitrahmen,
3. das Höchstausmaß allfälliger Übertragungsmöglichkeiten von Zeitguthaben und Zeitschulden in die nächste Gleitzeitperiode und
4. Dauer und Lage der fiktiven Normalarbeitszeit.
 
 
2. OGH kritisch zum Thema „Verfall“ von geleisteten Arbeitsstunden:
Ausgangspunkt für die Prüfung der Wirksamkeit der angeordneten Rechtsfolge ist, dass hinter jedem Zeitguthaben eine bereits geleistete Arbeitsstunde steht, die grundsätzlich auch entlohnungspflichtig ist. Denn es entspricht dem Grundkonzept des Arbeitsvertrags, dass die vom Arbeitnehmer erbrachte und vom Arbeitgeber entgegengenommene Leistung, sofern nicht Unentgeltlichkeit vereinbart wurde, der Entgeltpflicht unterliegt. Soll eine Arbeitsstunde „verfallen“, so würde sie weder als geleistet gelten noch einen Entlohnungsanspruch begründen.
 
3. Auferlegte undifferenzierte Arbeitnehmerverpflichtung, den Saldo nicht überschreiten, ist rechtswidrig:
Die hier strittige Betriebsvereinbarung verpflichtet die Arbeitnehmer hier, selbst dafür Sorge zu tragen, dass das Höchstausmaß des Gleitzeitsaldos nicht überschritten wird, trifft aber sonst keine Vorkehrungen dafür, dass es nicht doch zur Entgegennahme darüber hinausgehender Arbeitsleistungen kommt. Diese generalisierende Rechtsgestaltung lässt aber außer Acht, dass sich die Erbringung von Arbeitsleistungen in der jeweils konkreten Situation verwirklicht und ihre zeitliche Lage auch bei einem Gleitzeitmodell auf (ausdrückliche oder konkludente) Anordnungen des Arbeitgebers zurückgehen kann. Dass es andere Kontrollmaßnahmen dafür gäbe, behauptet hier die beklagte Arbeitgeberin nicht.
 
Deshalb ist der OGH der Ansicht, dass man eine Unterscheidung danach, ob ein über dem Gleitzeitsaldo bestehendes Zeitguthaben arbeitgeberseitig veranlasst oder zumindest entgegengenommen wurde oder ob das nicht der Fall war, erforderlich wäre.
 
Die vorliegende Gleitzeitvereinbarung nimmt keine solche Differenzierung vor.
 
Damit kann aber gerade nicht gesagt werden, dass sie – losgelöst von den Gegebenheiten des Falles – bei Arbeitsleistungen, die bei Erreichung des Übertragungshöchstmaßes zu einem weiteren Aufbau von Zeitguthaben führen, nur „aufgedrängte“ Arbeit erfassen würde.
 
Insbesondere kann dabei eine bloß vorweg formulierte allgemeine Verpflichtung der Arbeitnehmer, das Übertragungshöchstausmaß nicht zu überschreiten und selbst darauf zu achten, nicht zu der von der beklagten Arbeitgeberin gewünschten Auslegung führen, weil damit in der konkreten Situation nicht ausgeschlossen ist, dass es dennoch in einer dem Arbeitgeber zurechenbaren Weise (zB aufgrund der aufgetragenen zu erledigenden Arbeitsmenge) zu über dem zulässigen Gleitzeitsaldo liegenden Leistungen kommt.
 
Entstehen derart vom Verfall laut BV bedrohte Überhänge, widerspricht es im Ergebnis dem dargelegten arbeitsvertraglichen Grundverständnis, dass Arbeitsleistungen entgeltlich erbracht werden.
 
Sofern es sich – insbesondere bei Vollzeitkräften – um Überstunden handelt, die nicht abgebaut werden und idF zu einem Entfall des Entgeltanspruchs führen, verstößt die Bestimmung zusätzlich auch gegen die gesetzliche Pflicht zur Überstundenvergütung nach § 10 AZG.
 
4. Wann müssen Überstunden entlohnt werden:
Nach ständiger Rechtsprechung besteht ein Anspruch auf Bezahlung von Überstunden nicht nur dann, wenn diese vom Dienstgeber ausdrücklich (oder konkludent) angeordnet werden, sondern auch dann, wenn vom Dienstgeber Arbeitsleistungen verlangt werden, die in der normalen Arbeitszeit nicht erledigt werden können).
 
Letztlich kommt es auf ein Einverständnis mit dem Arbeitgeber an, das durch ausdrückliche Anordnung oder Genehmigung, aber auch konkludent dadurch gegeben sein kann, dass der Arbeitgeber zusätzliche Arbeitsleistung duldet und entgegen nimmt.
 
Bloße Aufforderungen des Arbeitgebers, die Überstunden abzubauen oder sie nicht zu machen, ohne dass er gleichzeitig entlastende organisatorische Maßnahmen ergreift, befreien diesen nicht von der Leistung von Überstundenentgelten.
 
Selbst wenn der Arbeitgeber Überstundenarbeit ausdrücklich untersagt hat, wird dadurch die nachträgliche stillschweigende Vereinbarung ebensolcher Überstundenarbeit nicht verhindert.
 
Die Qualifikation einer Arbeitsleistung als Überstundenarbeit kann danach nicht auf den in der Betriebsvereinbarung geregelten Fall beschränkt werden, dass der Arbeitsleistung eine ausdrückliche Anordnung zugrunde liegt. Es ist folglich auch nicht ausgeschlossen, dass ein über dem Gleitzeitsaldo liegendes Zeitguthaben weitere Überstunden enthält.
 
Wenn die Erbringung der Überstundenleistung nach den aufgezeigten Grundsätzen erfolgt ist, gebührt dem Arbeitnehmer, wie dargelegt, auch zwingend eine Überstundenabgeltung nach § 10 AZG.
 
Auch eine (kollektivvertragliche) Bestimmung, die nur „ausdrücklich“ angeordnete Arbeitsstunden als Überstunden vorsieht, könnte nichts daran ändern, dass solche Stunden als Überstunden zu bezahlen sind, zumal eine derart enge Auslegung solcher Bestimmungen deren Sittenwidrigkeit zur Folge hätte (8 ObA 29/10p; 8 ObA 12/13t; s auch RS0064125).
 
4. Wann besteht kein Anspruch auf Überstundenabgeltung?
 
Ein Anspruch auf Abgeltung besteht nur dann nicht, wenn die Erbringung der Arbeitsleistung zur Bewältigung der auferlegten Arbeitsmenge nicht notwendig, nicht (ausdrücklich oder konkludent) angeordnet und auch nicht vom Arbeitgeber im Sinn der Rechtsprechung als zusätzliche Arbeitsleistung geduldet und entgegengenommen wurde.
 
 
5. Wann müssen Gleitzeitguthaben nicht entlohnt werden?
 
In diesem Sinn hat auch das Berufungsgericht (OLG Wien, 10 Ra 47/05p, ARD 5668/9/2006) zu am Ende der Gleitzeitperiode nicht übertragbaren Zeitguthaben entschieden, dass eine Regelung in einer BV, wonach am Ende der Gleitzeitperiode nicht übertragbare Zeitguthaben verfallen, in dieser Allgemeinheit wegen des zwingenden Charakters des § 10 AZG unwirksam ist.
 
Nur wenn der Arbeitnehmer einer Weisung, Zeitguthaben rechtzeitig vor Ende der Gleitzeitperiode durch Zeitausgleich abzubauen, nicht nachkommt und die erbrachten Gutstunden auch nicht aufgrund der dem Arbeitnehmer aufgetragenen Arbeitsmenge erforderlich war, ist eine gesonderte Entgeltpflicht zu verneinen.
 
Nichts anderes würde gelten, wenn man den strittigen Text der Betriebsvereinbarung als Anordnung dahin versteht, dass die Nachfrist für den Abbau eines 24 Stunden übersteigenden Zeitguthabens in der Folge-Gleitzeitperiode zumindest der Sache nach eine weitere Übertragungsmöglichkeit eröffnet.
 
Nach § 6 Abs 1a AZG gelten in den nächsten Durchrechnungszeitraum übertragbare Zeitguthaben zwar nicht als Überstunden. Die genannten Erwägungen treffen aber auch dann zu, wenn diese Stunden selbst am Ende der Folge-Gleitzeitperiode zu einem über der Höchstgrenze liegenden „Überstand“ führen.
 
 
Auf den WIKU-Punkt gebracht:
 
Die Kappungsklausel in einer Gleitzeitregelung, die Gleitzeitguthaben grundsätzlich für verfallen erklärt, soweit dieses über den in der Vereinbarung geregelten Saldo gelegen ist, ist rechtlich nichtig.
 
Zum einen wurden offenbar Arbeitsstunden erbracht bzw. entgegengenommen und in weiterer Folge nicht entlohnt, zum anderen (mit derselben Begründung) liegen Überstunden vor, deren Bezahlung zwingend in § 10 AZG geregelt ist.
 
Als Arbeitgeber/in muss man – falls man derartige Regelungen in der Gleitzeitvereinbarung stehen hat – die undifferenziert derartige Guthaben dem Verfall preisgibt, schon entsprechend früher „eingreifen“ und dem Arbeitnehmer bzw. der Arbeitnehmerin auftragen, keine weiteren Salden aufzubauen, wenn er bzw. sie der Ansicht ist, dass die Leistung dieser Stunden nicht erforderlich ist (Schaffung eines Frühwarnsystems).
 
Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass in einem derartigen Saldo nicht nur „unnötige Stunden“ stecken, sondern in Wahrheit Arbeitsstunden, die aufgrund der Fülle der Arbeit gar nicht verhinderbar gewesen wären.
 
 
Der WIKU-Kommentar:
 
Aufgrund dieser OGH-Entscheidung stellt sich möglicherweise auch für die Vergangenheit die Frage, ob bereits „gekappte“ derartige Stunden nicht nachträglich entlohnt werden müssten, wenn man kein Frühwarnsystem hatte und sich einfach am Ende der Gleitzeitperiode dazu entschied, die Stunden verfallen zu lassen.
 
Man wird sich hier wohl auch die „Lohndumping-Frage“ stellen müssen.
 
Wichtig wird die Einführung eines Frühwarnsystem sein, also zB die Einführung einer „Zwischendurchgrenze“ sowie die verstärkte Einbindung der Führungskräfte in die Steuerung derartiger Stunden.
 
Der OGH setzt hier aus meiner Sicht ein starkes Zeichen gegen die in der Praxis immer häufiger vorkommende Verwässerung der Stundenleistungen zum einen und der Bezahlung zum anderen und der immer mehr aufkommenden (häufig nicht immer berechtigten) Inverantwortungnahme der betroffenen Arbeitnehmer/innen, selber dafür Sorge zu tragen, die Zeitguthaben abzubauen, obwohl dies in vielen Fällen aufgrund der hohen Arbeitsdichte kaum möglich ist.
 
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